Brexit: Splendid Isolation 2.0

Thomas Händel meint, dass der britische EU-Austritt und die 4. Industrielle Revolution wohl keine Erfolgsgeschichten werden

  • Thomas Händel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer vom Brexit, dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU, angesichts der heraufdämmernden Folgen der anhebenden 4. industriellen Revolution eine Erfolgsgeschichte erwartet hatte, wird nun nach Lektüre einer neuen britischen Studie wohl etwas ernüchtert sein. Laut der in diesen Tagen veröffentlichten Studie steht Großbritannien vor einem Jahrzehnt von Umbrüchen nach dem EU-Austritt. Geringes Wachstum und Staatsfinanzen an der Grenze der Belastbarkeit werden die Folge sein.

Nach einer »trostlosen Analyse« - so die britische Tageszeitung »Guardian« - durch einen der führenden Thinktanks der Insel, dem »Institute of Public Policy Research« (IPPR), wird Großbritannien bis 2030 nicht nur durch den Austritt »zutiefst ungestaltet« und »schmerzhafte Kompromisse« seien fast sicher. »Das Wachstum wird niedriger, die Investitionsraten werden schlechter und die öffentlichen Finanzen werden schwächer werden«, wird konstatiert. Dabei sind die Folgen durch die sogenannte Digitalisierung noch nicht einmal auf dem Schirm der politischen Verantwortlichen, geschweige denn der Öffentlichkeit.

Die Analyse stützt sich auf Daten der OECD, des unabhängigen »Office of national Statistics« sowie die von zahlreichen Ökonomen und Forschern. Die Folgen von Brexit und industrieller Revolution werden sich multiplizieren. Das IPPR schätzt, dass durch »Automatisierung und das Internet«, so der Bericht, bis 2030 zwei Millionen Arbeitsplätze im Handel und 600 000 in der Produktion verschwinden werden.

Rund 15 Millionen der aktuellen Arbeitsverhältnisse werden in der kommenden Dekade automatisiert werden, während rund drei Millionen neue Jobs insbesondere im Gesundheitswesen und im Servicebereich erwartet werden.

Der massive Verlust von Arbeitsplätzen mit mittlerem Einkommen werde durch gut bezahlte Jobs in wenigen Branchen - vor allem in London und im Südosten des Landes - und ein enorm wachsendes Prekariat von schlecht bezahlten Arbeitnehmern ausgeglichen. Aha! Soviel zum Thema »ohne Europa und mit technischem Fortschritt wird alles besser«.

Die Einkommensungleichheit werde mehr verfestigt, besonders die Einkommen der Armen würden stagnieren. Eine anhaltend fallende Währung werde die Preise in die Höhe treiben und damit den Lebensstandard der ärmeren Menschen am härtesten treffen. Die Einkommen der Haushalte mit niedrigem Einkommen werden nach den Berechnungen der Wirtschaftsforscher bis 2030 nur um zwei Prozent steigen. Auch das Wohlstandsgefälle zwischen London und dem Rest des Landes werde erheblich zunehmen. Bis zum Jahr 2030 werden Haushalte im Durchschnitt pro Jahr 1700 Pfund weniger Einkommen pro Jahr beziehen, als wenn Großbritannien in der EU geblieben wäre.

Das IPPR prognostiziert - bei rasch alternder Bevölkerung in Großbritannien - ein 13-Milliarden-Defizit bei der Finanzierung der sozialen Betreuung allein bis zum Jahr 2030. Auch der Druck auf die Finanzierung von Schulen, Krankenhäusern und Infrastruktur werde zunehmen. Total sozial also.

Spötter bezeichnen die Brexit-Entscheidung des britischen Wahlvolkes und deren Umsetzung, soweit erkennbar, durch die Regierung May als »splendid isolation 2.0« - wörtlich »wunderbare Isolation« - als Versuch, eine Politik aus dem 19. Jahrhundert erneut aufzulegen. Die Nutzung der Insellage des Vereinigten Königreichs, die Nichtbeteiligung an dauerhaften Allianzen und keinerlei Verpflichtungen gegenüber Anderen waren damals Staatsdoktrin. Ziel war, die Vorherrschaft in Europa bei gleichzeitigem Ausbau der überseeischen Kolonien und abhängigen Gebiete zu sichern. Letztlich ging aber die Zeit am United Kingdom vorbei und die splendid isolation in die Hosen. Nun: Wer aus der Geschichte nichts gelernt hat ...

Und einige haben’s wohl noch nicht gemerkt: Die Kolonien sind weg - echt! Europa auch.

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