Distanziert euch!

Fabian Köhler über den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, Muslime und wovon wir uns wirklich abgrenzen sollten

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwei Tage nach dem Anschlag kam ich am Berliner Breitscheidplatz vorbei. Wie eigentlich fast jeden Tag. Nur war dort wenig so wie an fast jedem Tag. Ich habe keine Ahnung, was den Attentäter motivierte, als er an jenem Montagabend einen Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt steuerte und zwölf Menschen das Leben nahm. Aber glaubt man den Geschichten, die bisher über das Leben und Denken des tunesischen Terroristen Anis Amri erzählt werden, dürfte er sicherlich Gefallen finden an der Szenerie, die seine Tat auch noch Tage später hinterlässt: Wo Rentner-Ehepärchen Hand in Handschuh ihren Glühwein tranken, stehen jetzt Polizisten mit Maschinenpistolen. Wo Touristen bis zum Anschlag die Friedensbotschaft der Gedächtniskirche per Whatsapp ihren Verwandten schickten, entstehen nun Selfies mit Hashtag TerrorInBerlin. Wo vorletzte Woche Kinder um »nur noch eine Runde, ooch bitte« auf dem Karussell schrien, brüllen nun Demonstranten um die Deutungshoheit.

Nur eine kleine Gruppe junger Leute wollte sich nicht so recht in diese brüchige Szenerie fügen, die der Attentäter hinterlassen hatte. Die standen da einfach, ganz still, ohne dumme Sprüche und altkluge Worte, nur mit Grabeskerzen in der Hand und starrten in die dunkle Nacht. Okay, ganz so stimmt das auch nicht. Denn eigentlich starrten sie in das Blitzlichtgewitter der Kameras. Und ganz ohne eigenen Beitrag zum post-terroristischen Kampf um die Deutungshoheit kamen auch die Leute mit »Muslime für Frieden«-Schriftzug auf dem T-Shirt nicht aus.

Aber zumindest die Vorstellung war schön. Die Vorstellung, dass es auch ein Gedenken ohne demonstrative Botschaft, Empörung und Besserwisserei geben könnte. Denn damit war nicht nur der Berliner Breitscheidplatz überfüllt. Egal ob man das Geschehen vor Ort oder im Netz verfolgt, überall stieß man auf ritualisierte Inszenierungen: Da war der Islamische Staat, der sich gewohnheitsmäßig zu allem und jeden bekennt. Der AfD-Politiker auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, der mal wieder irgendwas Pietätloses schrieb. Da waren die Linken, die sich ebenso ritualisiert mehr über den AfD-Politiker als über den Anschlag empörten. Die Regierungspolitiker mit dem passenden Gesetz in der Schublade. Usw. usf.

Und da sind die Gleichsetzungen von Terroristen und Muslimen, verbunden mit der Forderung, diese sollten sich gefälligst vom Terror distanzieren. Unter all den eingeübten Ritualen ist dieses vielleicht die sinnloseste. Zum einen, weil mein türkischer Nachbar ebenso wenig mit muslimischen Terroristen aus Tunesien zu tun hat wie ich mit christlichen Diktatoren auf den Philippinen. Bisher konnte noch kein Wissenschaftler nachweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Glauben an Allah und der Neigung zu Lkw-Fahrten über Weihnachtsmärkte gibt. Im Gegenteil: Die Zustimmung zur Demokratie ist unter Muslimen genauso hoch wie unter Nicht-Muslimen, die Ablehnung von Gewalt und Terror sogar in vielen Gesellschaften deutlich höher. Und auch der mutmaßliche Täter war wohl nicht bekannt für seine Frömmigkeit. Sicher ist: Gewalt entsteht durch Ausgrenzung. Gegen Terror hilft deshalb nicht noch mehr Ausgrenzung.

Und dennoch spielen viele Muslime das Spiel mit und bieten damit den Skeptikern die nächste Vorlage: Wenn zu etwas Distanz aufgebaut werden soll, muss dann nicht vorher auch eine Nähe bestanden haben? Ich habe einmal nachgezählt, wie oft sich die vier großen Islamverbände hierzulande in diesem Jahr von terroristischen Anschläge distanziert haben: 58 Mal. Mehr wird allein deshalb schon schwierig, weil die Anlässe irgendwann ausgehen. Und das sind nur die Pressemittlungen auf den Webseiten der Verbände, nicht Statements von Funktionären und öffentliche Kundgebungen.

Braucht es das? Ich glaube ja. Nicht auf der Verbandswebsite und nicht auf dem T-Shirt. Nicht ritualisiert vor Kameras. Sondern einfach so. Das Netz wie der Breitscheidplatz sind voll von Menschen, die einfach nur Anteil nehmen, stumm. Nur mit Grablicht, mal virtuell, mal echt. Oft sind es Muslime, die sie halten. Aber selten halten sie es als Muslime. Ja, Muslime sollten sich distanzieren. Nicht vom Terror, sondern von der Distanz. Von der Gleichgültigkeit und vom Vorverurteilen, vom Besserwissen und Fingerzeigen, vom Bagatellisieren und Parolenschreien. Muslime sollten das tun und alle anderen auch.

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