Menschen im Grenzland
In seinem Roman «Drach» erzählt Szczepan Twardoch ein Jahrhundert Geschichte
Mensch, Mann un Weib, Stein, Rieb, Hoas, Katz un Hund, Baum, alles dasselbigte. Alles ist eins. Die Erde ist so ein großer Drach, dem kriechen mer über seinen Leib, und Stollen graben mer in seinen Leib, der die reene Sonne ist...« Das sagte der alte Pindur zu Josef Magnor, als der noch ein Kind war und sie zusammen durch die Wälder zwischen den fernen oberschlesischen Dörfern streiften. Er sagt es ihm wieder, als er uralt ist und Josef sein Leben schon verwirkt hat. Nur ein Weiser, ein Verrückter, ein längst aus der Gesellschaft Ausgestiegener kann solche Weisheit verkünden. Pindur ist ein Sohn des Drach, des großen Drachen, des Behemot, der Erde, die alles weiß und alles in einem sieht, Zeiten, Menschen, Tiere und Kreatur. Winzig klein ist da ein Menschenleben, das durch die irdischen Höllen des 20. Jahrhunderts geht, durch Kriege, Herrschaften, Vertreibungen und Fluchten, so gut wie nichts, Erde, die aus der Erde kommt, auf der Erde lebt und wieder zu Erde wird. Pindurs Weisheit ist die der Erde, die alles in einem sieht, Menschen, Zeiten und Orte.
Szczepan Twardoch, 1979 geboren, erzählt ein Jahrhundert Geschichte - etwa 1904 bis 2014 - von vier bzw. fünf Generationen in Oberschlesien lebender Deutscher, von Menschen also, deren Identität in diesem Grenzland zwischen Deutschland und Polen mehrere Male infrage gestellt wird. »Die Grenze, die es nicht gibt, die aber dennoch irgendwie da ist,« heißt es mehrmals. Wohl nicht zufällig steht gerade an dieser Grenzstelle die Irrenanstalt bzw. Nervenklinik, in der eine der wichtigsten Personen, Josef Magnor, achtzehn Jahre verbringen muss.
Sie heißen Magnor, Czoik Gemander usw. sprechen hauptsächlich Deutsch in Dialektform und auch Polnisch, die früheren Generationen ein sogenanntes »Wasserpolnisch«. Manche ändern ihre Vornamen entsprechend der jeweiligen Herrschaft, wie auch die Namen ihrer Dörfer und Städte (Gliwice, Gleiwitz) wechseln. Kriege, Aufstände, Herrschaften und Diktaturen gehen über sie hinweg. Sie arbeiten tief in der Erde in den Kohlezechen so wie ihre Väter, was sich später mit dem Wandel der Zeiten auch wandelt. Sie sind in großen Familien miteinander verwandt oder befreundet, vor allem aber durch ihr Schicksal verbunden. Die Deutschen verheizen sie in den beiden großen Kriegen. Von denen sind sie lebenslang gezeichnet.
Einen einzelnen Protagonisten gibt es in diesem Roman nicht, eher ist es diese Bevölkerung insgesamt, aber es sind neben vielen anderen hauptsächlich zwei Personen einer Familie in gerader Linie, deren Schicksal beispielhaft erzählt wird. Da ist der schon erwähnte Josef Magnor, als Kind auch Zefliczek genannt. Er hat gerade das richtige Jugendalter, um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen und in der Flandernschlacht das Töten zu lernen. Ein ganzes umfangreiches Kapitel, eine Art eigenständigen Essay, über die Schlacht mit der Überschrift »Loretto, Höhe 165« setzt der Autor in die Mitte des Romans. Josef hat das Glück, heimzukehren. »Josef Magnor empfindet keinen Hass auf die Deutschen, er mag nur die reichen Säcke nicht, für die er im flandrischen Morast gekämpft hat.« Josef wird Bergmann, er wird in regionale Aufstände verwickelt, und er gerät in eine Liebesaffäre, bei der schließlich zwei Menschen getötet werden.
Vorläufige Rettung ermöglicht ihm sein Freund, der hoch anständige Adalbert/Wojciech Czoik, der so anständig ist, dass ihn die Deutschen in Mauthausen umbringen. Zu nennen ist als letzter Familienvertreter Nicodem Gemander, der im 21. Jahrhundert zum großen polnischen Stararchitekten wird, alles hat und nichts in den Griff bekommt und schließlich in derselben (Grenz-)klinik wie sein Urgroßvater landet. Hier ist man an die biblischen Worte von den Sünden der Väter erinnert, die sich an den Kindern rächen.
Szczepan Twardoch erzählt atmosphärisch dicht, vermischt die vielen Ereignisse, springt nicht nur kapitel-, sondern oft absatzweise zwischen den Zeiten hin und her. Und doch gibt es eine Entwicklung und viel Spannung im Roman. Kommen wir zum Anfang zurück! Nur winzige Gebilde sind die Menschen auf dem großen Drach. Alles ist eins. Eine Region ist eingeschlossen in das Weltgeschehen und wird beispielhaft selbst Weltgeschichte und Weltgeschehen.
Szczepan Twardoch: Drach. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt, 414 S., geb., 22,95 €.
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