Rebecca Harms teilt zum Abschied aus
Grüne im Europaparlament werden wohl Ska Keller zur neuen Co-Fraktionsvorsitzenden wählen
»Eigentlich ist das los: Rebecca Harms tritt bei den Halbzeitwahlen im Dezember nicht mehr an und Ska Keller hat sich für die Nachfolge beworben wie vor zwei Jahren geplant.« So lautete Anfang November die Antwort aus dem Büro von Rebecca Harms, Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, auf die nd-Anfrage, was eigentlich gerade los sei bei den Grünen. Wenige Tage zuvor hatte Harms ihren Rücktritt als Fraktionsvorsitzende bekannt gegeben - einen Posten, den sie sich mit dem belgischen Europa-Abgeordneten Philippe Lamberts teilt. Bei den Neuwahlen am kommenden Dienstag wird sie nicht wieder kandidieren.
Grund dafür seien Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Grünen-Fraktion. »Mein Eindruck ist, dass es mir nicht geglückt ist, die Fraktion so bedingungslos pro Europäische Union aufzustellen, wie das in diesen Zeiten … gefragt ist«, sagte Harms in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Es gebe in der Fraktion ihrer Erfahrung nach eine zu starke »Ja-aber-Haltung«: Wir sind für Europa, aber nicht für dieses. Und zum Schluss des Interviews sagte Harms: »Ich glaube, dass in dieser Fraktion auch im Vergleich zu der Fraktion, die ich in der letzten Legislatur mitgeführt habe, es tatsächlich eine politische Verschiebung gegeben hat.«
Heftige Vorwürfe, die Harms allerdings ohne Nennung von Namen im Raum stehen ließ. Wer in ihrer Fraktion nicht genügend für die EU sei, überließ Harms Spekulationen. Die »Süddeutsche Zeitung« (SZ) nahm sich der Sache an und wurde konkret: Es sei kein Geheimnis, dass Harms mit den Äußerungen von Ska Keller, Jan Philipp Albrecht oder Sven Giegold oft erhebliche Probleme habe. Alles Grüne, die oft in der Öffentlichkeit auftreten. Auch von einer Auseinandersetzung zwischen »Fundis« und »Realos« schrieb die SZ. Die Fraktion sei gleichsam in ein Nord- und ein Süd-Lager gespalten.
Bei den Abgeordneten aus den skandinavischen Ländern habe Harms weiter viel Rückhalt, weil auch dort die Politik des von Harms oft gesuchten Ausgleichs und der Kompromissfindung eine lange Tradition habe. Die Grünen aus den südeuropäischen Staaten dagegen seien mit Harms Einstellungen oft nicht zufrieden. Besonders Harms Befürwortung der strengen EU-Sparpolitik für hoch verschuldete EU-Mitgliedsstaaten stoße ihnen auf.
Bestätigungen dieser Einschätzung waren kaum zu erhalten. Die sonst sehr mitteilsamen EU-Abgeordneten der Grünen hüllten sich mehrheitlich in Schweigen. Das Büro von Ska Keller teilte auf Nachfrage zu den Harms-Vorwürfen mit: »Für Ska Keller ist das Thema abgehakt.« Die Büros von Albrecht, Lamberts und Reinhard Bütikofer, Vorsitzender der Europa-Grünen, verwiesen tagelang auf volle Terminkalender, die eine Beantwortung von Fragen nicht zuließen. Michael Cramer, Grüner Vorsitzender des Verkehrsausschusses im EU-Parlament, bat, sich in dieser Angelegenheit an Harms zu wenden.
Lediglich Sven Giegold war zu Antworten bereit. »Das alles ist vor allem traurig«, sagte er gegenüber »nd«. Harms habe fraglos »riesige Verdienste für die ökologischen Bewegungen und die Grünen in Europa« erzielt. Von ihrer Rücktrittsbegründung halte er jedoch nichts. »Es gab eine Absprache in der Fraktion, dass ein Stabwechsel nach zweieinhalb Jahren erfolgt«, so Giegold. Kellers Position als Spitzenkandidatin der Grünen bei den vergangenen Europawahlen, die sie durch eine parteiinterne Abstimmung gegen Harms errungen hatte, habe den Ausschlag für diese Entscheidung gegeben. Fälschlicherweise wirke aber durch die Äußerungen von Harms jetzt alles so, »als ob es ein Ergebnis von politischen Unstimmigkeiten« sei. Von einer Spaltung in einen bedingungslosen Pro-Europaflügel, angeführt von Harms, und weniger begeisterten Europa-Grünen will Giegold nichts wissen. »Ich kennen nur Pro-Europäer in unserer Fraktion«, sagt er.
Richtig sei allerdings, dass die Verteidigung der EU bei den Grünen nicht ohne Kritik geschehe. Kritisch äußere sich auch Harms selbst. Einen substanziellen Unterschied zwischen ihr und anderen Grünen Politikern sehe er nicht. »Wenn die EU Atomkraftwerks-Subventionen zulässt, dann kritisiert Rebecca das genauso scharf wie Ska im Bereich der Flüchtlingspolitik kritisiert, wenn täglich Menschen im Mittelmeer ersaufen, oder ich, wenn Steueroasen begünstigt werden«, so Giegold. Das ändere aber nichts daran, dass »wir alle gemeinsam überzeugt sind, dass wir mit einem starken Europa und einer starken europäischen Demokratie die Zukunftsprobleme zu lösen können«.
Harms war auch zu diesen Äußerungen nicht zu sprechen. Anfragen an ihr Büro blieben unbeantwortet.
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