Wedelnde Schwänze, rollende Killer, geheime Raketen

Bilanz des 26. Filmfestivals Cottbus

  • Kira Taszman
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Handelsreisender verwandelt sich in ein Rieseninsekt, und auf dem Newski Prospekt stolziert eine mannshohe Nase in Uniform einher. Derlei Surreales ersannen Literaten aus Prag und Sankt Petersburg: Kafka und Gogol. Nimmt es da wunder, dass auf dem diesjährigen Festival für osteuropäischen Film in Cottbus ein russisches Werk gewann, in dem der Zooangestellten Natascha plötzlich ein Tierschwanz am unteren Rücken wächst? Der Gewinnerfilm »Zoologie« von Iwan Twerdowski stach thematisch aus einem Wettbewerb hervor, in dem die meisten Filme realistischere Ansätze verfolgten, auch wenn hie und da die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie verschwammen.

Doch zurück zu Natascha. Diese verhuschte Frau wird von den Kolleginnen gemobbt und zu Hause von der greisen Mama gemaßregelt. Folglich muss Natascha verheimlichen, dass sie die »Hexe« mit dem Tierschwanz ist, über die alle Nachbarinnen in lustvoller Angst tuscheln. Als Natascha den Schwanz röntgen lässt - gar nicht einfach, denn er wedelt ständig -, lernt sie den netten Radiologen Petja (Dmitri Groschew) kennen und erlebt mit ihm Momente unbeschwerter Lebensfreude. Ist der Schweif also doch ein Geschenk des Himmels?

Wer Twerdowskis ersten Film »Die Klasse« (auch er gewann 2014 in Cottbus) kennt, weiß aber, dass der erst 27-jährige Regisseur die menschliche Seele so unbarmherzig seziert, dass Grausamkeit und Dummheit dabei stets zu Tage treten. So wird in »Zoologie« ein surreales Ereignis zwar zum Erweckungserlebnis - doch das Glück währt nicht lang. Natalja Pawlenkowa gewann für den Film verdient auch den Preis als beste Darstellerin.

Spielt »Zoologie« trotz Nataschas Fellschwanz in der realen Welt, gibt sich die Doku »Houston, wir haben ein Problem!« von Ziga Virc gar einen wissenschaftlichen Anstrich. Sie behandelt den Mythos von einem milliardenschweren jugoslawischen Raumfahrtprogramm, das die Amerikaner dem notorisch klammen sozialistischen Staat in den 1960ern samt Logistik abgekauft hätten. Archivaufnahmen von Tito, Lyndon Johnson und Nixon stützen diese Verschwörungstheorie. Doch die Mockumentary (Pseudo-Dokumentarfilm) hintergeht den verdutzten Zuschauer und demonstriert die Effektivität von Manipulation durch clevere Pseudo-Beweise. Auch die ungarische Tragikomödie »Kills on Wheels« von Attila Till über eine mordende Dreierbande von Rollstuhlfahrern erscheint glaubwürdig - bis ein Overkill an Splattereffekten und eine Reihe von Indizien diese Prämisse hinterfragen.

Zeichneten sich die meisten Werke des Festivals durch ihren universellen Anspruch aus, thematisierten »Der Ankläger, der Verteidiger, der Vater und sein Sohn« (Regie: I. Triffonova) und »Das Haus der anderen« (Regie: R. Glurjidze) spezifische südosteuropäische Konflikte der jüngeren Vergangenheit: den Jugoslawienkrieg und die georgischen Sezessionskriege. Eine Gerichtsverhandlung im ersten und die gespenstische Leere von entvölkerten Dörfern im zweiten illustrieren Traumata abseits des Kriegsgeschehens.

Doch vor allem das Thema Familie zog sich als roter Faden durch viele der 12 Werke der Wettbewerbsauswahl. Das polnische Drama »The Last Family« (Regie: Jan Matuszynski) etwa erzählt von dem authentischen Maler Zdzislaw Beksinski (1929-2005). Er schuf Bilder voll apokalyptischer oder sadomasochistischer Szenen. Außerdem filmte Beksinski geradezu obsessiv sich selbst und seine Umwelt auf Video, darunter seinen lebensmüden Sohn Tomasz, einen Musikjournalisten, der seinen Eltern mehr Anlass zu Sorge denn Freude gab. Das düstere, aber aufschlussreiche Werk spielt in einer Warschauer Plattenbausiedlung, die an jene in Krzysztof Kieslowskis »Dekalog« erinnert. Angst, Krankheit und düstere Vorahnungen bestimmen die familiäre Schicksalsgemeinschaft, welche sich im Geheimen fragt, wer von ihnen als erster dem Sensenmann zum Opfer fallen wird. Dawid Ogrodnik, der Tomasz spielt, erhielt den Preis für den besten Schauspieler, den der herausragende Hauptdarsteller Andrzej Seweryn ebenso verdient hätte.

Die mit Niedrigstbudget produzierte ungarische Dramödie »It’s Not the Time of My Life« schließlich wurde in der Wohnung von Regisseur Szabolcs Hajdu gedreht und beobachtet auf engstem Raum die Beziehung zweier Schwestern und ihrer Familien. Die eine beherbergt die andere vorübergehend und dadurch brechen alte Konflikte auf. Humorvoll, unterhaltsam und nachvollziehbar erzählt der Film von hyperaktiven Kindern, unreifen Eltern, Erziehungs- und Beziehungsproblemen - und erhielt den Preis für die beste Regie.

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