Beyond Dreams and Hopes

Fotoreportage über eine syrische Familie im türkischen Mardin

  • Texte und Fotos von Emine Akbaba
  • Lesedauer: 4 Min.
Emine Akbaba, 1987 in Hannover geborene türkische Fotojournalistin, fuhr auf eigene Faust und Kosten nach Mardin in der Nähe der türkisch-syrischen Grenze. Dort traf sie die Familie, deren Geschichte auf diesen Seiten erzählt wird. Ihre intime, einfühlsame Fotoreportage beeindruckte und berührte die Jury des diesjährigen Fotowettbewerbes des Münzenbergforums so nachhaltig, dass sie ihrer Arbeit den 1. Preis verlieh. In der Laudatio hieß es: »Emines Fotoreportage zeigt auf einer sehr persönlichen Ebene die Auswirkungen des Krieges und einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik – und das abseits der gängigen Bilder, die uns tagtäglich über die Medien erreichen. « Emine Akbaba studierte Fotojournalismus an der Fachhochschule Hannover und absolviert gegenwärtig ein Stipendiatenprogramm an der Danish School of Media and Journalism. Ihr besonderes Interesse gilt Themen, die sich mit den Rechten von Frauen und Geschlechtergerechtigkeit im Nahen Osten beschäftigen.

Die gelb-orange leuchtende Sonne am Horizont verspricht einen warmen Sommertag. Die Menschen sind auf dem Weg zur Arbeit. Gelächter und orientalische Musik erfüllen die Luft. Der Ruf des Muezzins übertönt die hektischen Geräusche der Stadt für einige Minuten. Durch das offene Fenster dringt seine Stimme in Turkiyes Wohnzimmer und erfüllt es mit melodischen Klängen. Ein Windhauch lässt die Gardine tanzen.

Turkiye sitzt in der Nähe des Fensters, ihr Blick ist abwesend, der Fernseher läuft ohne Unterbrechung. Die Nachrichtensprecherin berichtet über die Lage in Syrien. »Wir schauen uns immer die Nachrichten an, weil wir wissen wollen, ob es neue Anschläge gab oder ob sich die Lage gebessert hat. Syrien war sehr, sehr schön. Jetzt gibt es dort nichts mehr. Nur noch Anschläge, Vergewaltigungen und Tod. Es ist sehr schlimm, im Krieg zu leben«, sagt Turkiye und erzählt, wie schwierig ihre Situation ist. Sie lebt mit ihren Töchtern in einer kleinen Wohnung in Mardin im Südosten der Türkei, rund 20 Kilometer nördlich der Grenze zu Syrien. »Wir sind in der Nacht an die Grenze geflohen. Jeder flieht in der Nacht. Tagsüber kann man sich nicht auf die Straße trauen, sonst wird man erschossen«, erzählt sie. In einer kalten und regnerischen Nacht haben sie ihr altes Leben zurückgelassen. Ihr Gepäck bestand aus dem, was sie in der Hand tragen konnten. Das Wertvollste waren die Familienfotos, insbesondere die Bilder, auf denen ihr Vater zu sehen ist.

Der Tod des Ernährers und die Erfahrungen der Flucht haben die Familie traumatisiert. Am meisten betroffen ist die 14-jährige Eye. Die Mutter ist sehr besorgt über ihren Zustand. Nachdem Eye mit eigenen Augen gesehen hat, wie Menschen in Aleppo auf offener Straße enthauptet wurden, plagen sie Albträume. Turkiye hält dann ihre Tochter in den Armen, streichelt ihren Kopf und flüstert Gebete. Nach solchen Nächten versucht sie, Eye viel Liebe und Aufmerksamkeit zu geben, um sie wenigstens für einen Moment die schrecklichen Erlebnisse vergessen zu lassen.

Seit Anfang des Krieges sind Kinder die vergessenen Opfer. Mehr als fünf Millionen sind betroffen, über eine Million Kinder haben in angrenzenden Ländern vorläufigen Schutz gefunden. Sie sind eine verlorene Generation, die bereits in jungen Jahren die Hoffnung auf eine geborgene Zukunft verloren hat.

Die Hilflosigkeit und die ungewisse Zukunft ihrer Töchter lassen Turkiye keine Ruhe, sie fühlt sich verzweifelt und ausgelaugt. Ein Schlaganfall hat vor Kurzem ihre rechte Gesichtshälfte gelähmt. Nur Beruhigungs- und Schlaftabletten erlauben der Mutter für einige Stunden Schlaf. Seit es den Vater und Ehemann nicht mehr gibt, liegt die gesamte Last des Überlebenskampfes auf ihr. Die materielle Lage der Familie ist seit ihrer Flucht in die Türkei immer schlimmer geworden.

Vor einigen Monaten hat Turkiye ihre älteste Tochter Ruba verheiratet. Die Hochzeit war eine große Feier, aber eine offizielle Heiratsurkunde gibt es nicht. Den zehn Jahre älteren Mann hatte sie nur einige Male zuvor gesehen. Ruba darf ihre Familie seit der Hochzeit nicht mehr besuchen, sie zog in das Haus der Schwiegermutter. Die Lebensmittelmarken, die nicht zum Leben reichen und Vermieter, die mit der Not der Flüchtlinge Geschäfte machen, haben die Mutter zu der Hochzeit gezwungen. Mit dem Brautgeld für Ruba hat Turkiye die Schulden, die sich angesammelt haben, beglichen.

Nun muss auch Fatma, selber noch ein Kind, heiraten. Ohne Ehemann und Söhne fürchtet die Mutter um die Sicherheit und Zukunft ihrer Töchter. Vor dem Krieg wollte Fatma studieren und Lehrerin werden. Nun wird sie heiraten und sehr wahrscheinlich bald ihr erstes Kind bekommen, obwohl ihr kindlicher Körper noch gar nicht bereit ist für eine Schwangerschaft.

Kinderhochzeiten und Zwangsehen gehören zu den dramatischen Folgen des Syrien-Konflikts. Mit dem Krieg endet für viele syrische Mädchen die Kindheit. Sie vermissen ihr altes Leben. Sie sehnen sich nach dem Vertrauten und klammern sich an die Hoffnung, dass sie Syrien eines Tages wieder sehen werden. Die Türkei bietet ihnen zwar Sicherheit, geborgen fühlen sie sich hier aber nicht. »Wir gehören nicht hierher. Wir sollten in unserem Dorf sein, mit unseren Freunden spielen und uns wie normale Kinder benehmen können. Ich wollte schon immer Ärztin werden und Infusionen legen. Der Krieg hat alles zerstört. Es ist nichts mehr geblieben«, sagt Eye.

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