»Stechschritt auf Churchills Grab«
Briten empört, dass Geburtshaus des Premiers für einen Film zum Hitler-Sitz wurde
Bletchley, 70 km nordwestlich von London, war bei Beginn des Zweiten Weltkriegs ein so unauffälliges Städtchen, dass es wegen seiner Nähe zu den Schaltstellen in London und den Universitätsstädten Oxford und Cambridge mit ihrem Angebot an klugen Köpfen geradezu ideal war für die tragende Rolle, die ihm für die nächsten Jahre zugedacht war: das Abfangen, Entschlüsseln und Auswerten des Nachrichtenverkehrs der Nazis. Auf dem Höhepunkt arbeiteten 9000 Geheimdienstleute in Bletchley Park. Erst in den 1970er Jahren erfuhr die Öffentlichkeit, dass es das Top-Secret-Lager der Nazicode-Knacker überhaupt gegeben hatte. Die Entzifferungsmaschinen der Briten trugen dazu bei, die Verluste der Anti-Hitler-Koalition zu begrenzen und den Krieg erheblich zu verkürzen. Historiker sprechen von bis zu zwei Jahren. Besonders stolz waren die Briten, dass es den Nazis bis Kriegsende nicht gelang, das Codeknacker-Camp zu unterwandern.
Nun jedoch gibt es auf der Insel ein kleines Ereignis, bei dem manchen Insulaner das Gefühl beschleicht, die Nazis hätten Britannien doch noch eingenommen. Nicht weit von Bletchley Park, in Woodstock in der Grafschaft Oxfordshire, wird der Film »The Last Knight« gedreht, der nächsten Juni in die Kinos kommt. Für ihn wurde Blenheim Palace, der Palast, in dem Winston Churchill am 30. November 1874 geboren wurde, mit riesigen SS-Fahnen drapiert und zum Hauptquartier Adolf Hitlers umfunktioniert. Auch Kriegsgerät der Wehrmacht und militärische Verbände in SS-Outfit kommen zum Einsatz.
Obwohl jeder weiß, dass es sich um Kulisse handelte, war der öffentliche Aufschrei beträchtlich. »The Sun«, britisches Äquivalent der »Bild«-Zeitung, platzierte ein Foto der mit Hakenkreuzfahnen behängten Fassade von Blenheim Palace auf Seite eins und titelte: »Stechschritt auf Churchills Grab - Nazis in Blenheim«. Auch Veteranen waren zur Stelle, um die Auswahl des symbolträchtigen Orts zu kritisieren. Tony Hayes vom Veteranenverband UK erklärte, die überlebenden Soldatinnen und Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, seien »entsetzt und angewidert«. Oberst Richard Kemp, ehemaliger Kommandeur der britischen Invasionsstreitkräfte in Afghanistan, sagte dem »Guardian«: »Ich weiß, es ist nur ein Film, doch es ist respektlos gegenüber Churchill, dessen Familiensitz Blenheim Palace ist. Er wird sich im Grab umdrehen.« Tatsächlich liegt Churchill nur gut eine Meile von Blenheim entfernt in der Ortschaft Bladon begraben, gemeinsam mit Eltern und Bruder.
Abgesehen davon, dass sich - berechtigte oder fabrizierte - Schlagzeilen über Nazis in Britannien immer großer Aufmerksamkeit sicher sein dürfen, ist die Aufregung im konkreten Fall nachvollziehbar. Winston Churchill ist bis heute die Identifikationsfigur der Briten für den Kampf gegen Nazi-Deutschland. Ungeachtet der widersprüchlichen und reaktionären Lebensbilanz auf anderen Gebieten haben die Faschisten in keinem anderen britischen Politiker einen entschiedeneren, verbisseneren und clevereren Gegner gefunden als in Churchill. Eine Umfrage ergab erst kürzlich wieder, dass alle Persönlichkeiten, die in den letzten hundert Jahren in Downing Street 10 amtierten, nach Ansicht der meisten Briten im Schatten des Kriegspremiers (1940-1945) stehen. Der Mann mit der Zigarre, den zum Victory-Zeichen gespreizten Fingern und dem schwarzen Humor gilt vielen bis heute als Quell von Kraft und Inspiration in Britanniens dunkelster Stunde. Das zeigt sich oft in Kleinigkeiten. Etwa daran, dass John Lennons Mutter ihrem am 9. Oktober 1940 geborenen Sohn als zweiten Taufnamen Winston gab - eine Verbeugung vor dem Retter der Nation zu einer Zeit, da auch Lennons Liverpool schwere Schäden durch die deutsche Luftwaffe erlitt.
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