Putins Ausrufezeichen an Syriens Front
Seit einem Jahr ist Russland in Aleppo und Damaskus direkte Kriegspartei / Der Westen zeigt sich irritiert
Moskau hat für die umkämpfte nordsyrische Millionenstadt Aleppo eine zweitägige Waffenruhe angeboten. In dieser Zeit könnten Hilfskonvois in den von Rebellen gehaltenen Ostteil der Stadt fahren, um Versorgungsgüter aller Art für die Zivilbevölkerung zu bringen. Wer von den Eingeschlossenen Ost-Aleppo verlassen möchte, könne dies in der vereinbarten Zeit ebenfalls tun. Dies gelte auch für Kämpfer, die sich ergeben wollen. Allerdings hätten sie nicht automatisch Straffreiheit zu erwarten.
Als der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow am Donnerstag diesen Vorschlag machte, wird es ihn kaum überrascht haben, dass er von den USA umgehend abgelehnt wurde. Die Amerikaner verlangen eine Woche, mindestens. Mit zwei Tagen sind sie nicht einverstanden. Die Russen vermeinen, den Braten zu riechen, und lehnen eine längere Pause genauso entschieden ab. Denn, so Rjabkow, »in einer siebentägigen Waffenruhe könnten terroristische Kräfte sich umgruppieren«. Damit könnten mühevolle militärische Erfolge, die man in den vergangenen Tagen am Boden verzeichnen konnte, wieder zunichte gemacht werden. Die syrischen Regierungstruppen sind wohl in der Vergangenheit mehrfach düpiert worden, und salafistische Websites haben damit im Netz geprahlt, was offenbar nicht klug war.
Der mediale Schlagabtausch zeigt, wie verhärtet auch die diplomatischen Fronten momentan sind. Und, schmerzlich für die Betroffenen: Nicht nur den viel gescholtenen Russen und Syrern, auch für die Amerikaner scheint die Lage der eingekesselten Ost-Aleppiner nicht prioritär zu sein. Außerdem wird wie selten zuvor deutlich, dass die strategischen Entscheidungen in diesem Krieg nicht vor Ort fallen, sondern in den Metropolen der Großmächte.
Für Washington trifft das so gut wie immer zu. Wo im Nahen und Mittleren Osten Krieg geführt wird, sind die USA als Akteur mit dabei, so auch in Syrien; für Moskau gilt letzteres seit genau einem Jahr, und es ist in der nachsowjetischen Ära außerhalb der einstigen Union gewissermaßen eine Premiere. Seit dem 30. September 2015 sind russische Kampfbomber auf Seiten der syrischen Regierungstruppen im Einsatz, auch Berater und Techniker. Genau wie die USA vermeidet Moskau, Bodentruppen zu entsenden. Verluste gibt es trotzdem. Bisher sollen mindestens 20 Armeeangehörige durch Feindeinwirkung ums Leben gekommen sein, den Absturz eines Hubschraubers eingerechnet, von dem Rebellen behaupten, sie hätten ihn abgeschossen.
Die aktive russische Parteinahme für Staatspräsident Baschar al-Assad hat eine mit dem Rücken zur Wand stehende syrische Armee wieder in die Vorhand gebracht. Den Krieg hat sie damit noch nicht gewonnen, falls er militärisch überhaupt für eine Seite zu gewinnen ist. Aber das Momentum ist deutlich auf ihrer Seite.
Die Reaktionen des Westens auf das russische Eingreifen sind überwiegend irrational bis verstört. Offenbar sind seine Geheimdienste davon überrascht worden und haben sich dann von ihren Staatsführungen entsprechende Vorhaltungen machen lassen müssen. Glaubte man zunächst, es ginge Russland vor allem darum, seinen Flottenstützpunkt in Tartus zu sichern, macht sich jetzt die Erkenntnis breit, Moskau wolle tatsächlich Assad zum Sieg verhelfen.
Das wird nicht akzeptiert, nicht in Washington; am wenigsten in Paris, wo man am lautesten die libysche »Lösung« propagiert, auch nicht in Berlin. »Assad muss weg«, lautet die stereotype Forderung, und man gibt sich fassungslos, dass sich Präsident Wladimir Putin weigert, dem nachzukommen. Man erinnert sich des spöttischen Wortes vom Kollegen Barack Obama, wonach Russland »eine Regionalmacht« sei, die zwar »ihre unmittelbaren Nachbarn bedrohen« könne - mehr aber kaum.
Allerdings bedrohen die Russen mit ihrem Eingreifen in Syrien noch immer keinen fremden Staat, sondern nehmen Partei für eine Seite in jenem Krieg, was Frankreich, die Türkei und die USA schon viel länger mit großer Selbstverständlichkeit tun. Aber zugestanden wird ihnen das von den anderen nichtsyrischen Akteuren nicht. Die Hamburger »Zeit« fragt: »Warum ist das großmächtige Amerika vor diesen beiden Zweitplatzierten (genannt wird auch Iran - R. E.) zurückgewichen?« und jammert über Obama, weil er eine russische Dominanz in Syrien zulasse, »einen Daueranfall von Selbstentmachtung«.
Wie lange das russische Engagement in Syrien andauert, wagt im Moment niemand vorauszusagen. Viel dürfte von der künftigen Strategie der USA in Nahost abhängen. Diese aber ist momentan ebenso ein Buch mit sieben Siegeln. Man wird dazu wohl mindestens den Wahltag abwarten müssen.
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