Rendezvous im Unendlichen
Absurde Zyklen: Die Kunsthalle Lingen widmet dem Evoluzzer Tomas Schmit eine Retrospektive
Wie, zum Euklid, soll das gehen? Wie sollen sich Parallelen im Unendlichen treffen können? Dieses Mysterium hat manche Mathedeppen gemartert. Und es ist, als ob der Künstler Tomas Schmit Koffein in ihre Verzweiflung schütten wollte: Auf zwei parallelen Pfaden zeichnet er je eine Gemeine Wegschnecke, Arion distinctus, die eine rutscht gemächlich nach links, die andere nach rechts. Gerade befinden sie sich auf gleicher Höhe. Wenn die projektive Geometrie Recht behält, treffen sie sich im Unendlichen wieder. Vertrauensvoll schreibt der Künstler über sein Blatt: »bald ist wieder schneckentreffen.«
Und so heißt auch die Retrospektive, die die Kunsthalle Lingen dem vor zehn Jahren verstorbenen Künstler ausrichtet. Rätsel und Täuschungen waren sein Metier, aber er war kein Houdini der Kunst. Er wollte niemanden täuschen. Er wollte etwas über die Welt herausfinden, die voller Rätsel und Täuschungen ist. Wo anderen ihre Symmetrien genug sind, dachte er über Parallelen im Unendlichen nach. Und zwar sitzend und Bier trinkend, denn er betrieb »Sitzkunst«.
Der junge Schmit, gebürtig ausgerechnet aus Thier (heute Teil von Wipperfürth), wusste alles über Lebermoose, Schnepfen und Mistkäfer. Vermutlich wäre er Biologe geworden, hätte er nicht eines Tages einen Bericht in der »Kölnischen Rundschau« gelesen. Das Blatt schäumte vor Wut über Nam June Paik, der bei einer Performance ein Klavier umgekippt hatte. Da wusste Schmit: »Das ist mein Mann.« Und so nahm eine der erfreulichsten Geschichten der jüngeren Kunst ihren Lauf. Denn Paik gehörte der gerade ins Leben gerufenen Fluxusbewegung an, die Schmit mit offenen Armen empfing. 1962 betrat der erst 19-Jährige die Szene mit seinem »zyklus für wassereimer (oder flaschen)«. Im Kreis stehen Wassereimer oder Flaschen. Der Interpret schüttet so lange Wasser von einem Gefäß ins andere um, bis es vollständig verschüttet oder verdunstet ist.
Harun Farocki hat den »zyklus« 2010 als »Re-Pouring« mit enormem technischem Aufwand adaptiert, zur Finissage der Retrospektive, am 13. November, wird ihn Hartmut Andres in Lingen wiederaufführen. Bei Schmit hat die Aktion etwas zutiefst Absurdes. Er gehörte zu den komischen Künstlern, die, wie die von ihm geliebten Karl Valentin und Lewis Carroll, ernste Fragen hinter einem Scherz verstecken. Darüber, wie »fröhlich und lustig mein kram manchmal daherkommt, übersehen viele, was hinter ihm, was in ihm steckt«, hat er selbst einmal geklagt. Eine Zeichnung aus dem Jahr 1998 zeigt ein DNA-Molekülmodell, aber statt »Intron« und »Exon« heißen Schmits Gensequenzen »wieso-bin-ich-was-fragon«, »wieso-bin-ich-nicht-nichts-bockon« oder »auch-in-einem-leeren-päckchen-papiertaschentücher-ist-weltall-vorschlagzurgüton«.
Bevor Schmit zur Natur zurückkehrte, hatte er die Fluxusschule durchlaufen, die einen gründlich von Sentimentalität und Großtun reinigt. Fluxus war ein Protest gegen die bürgerliche Kunst, den Schmit mit »kräht der gockel auf nem sockel, ist es mist« zusammenfasst. Sobald die selbstgefällige Kunst vom Sockel gestürzt war, konnten wieder Fragen gestellt werden. George Brecht, der eleganteste der Fluxuskünstler, fragte nach den banalen Ereignissen des Alltags. Arthur Köpcke, ein enger Freund Schmits, befragte den Kadavergehorsam des militärischen Widerstands. Das war bei der legendären Fluxusveranstaltung am 20. Juli 1964 in Aachen. Köpckes Rede ging in der Empörung der Studenten unter. Heute erinnern sich alle nur noch daran, dass an diesem Abend Joseph Beuys die Nase blutig geschlagen wurde.
Schmit, der das Aachener Spektakel mitveranstaltet hatte, hielt sich bei solchen Gelegenheiten zurück. Er stellte philosophische Fragen - zur Sprache und ihren Paradoxien, wie in seinem Buch »das gute dünken« (1970), oder zur Natur und ihren Täuschungen, wie in den Jahren darauf. Er nannte sich einen »Evoluzzer«. »Evolution« war für ihn das, was auch anders hätte kommen können; nicht weit von dem entfernt, was unsereiner »dialektischer Materialismus« nennt. Mit seinem Buch über Wahrnehmung, dem »ersten entwurf (einer zentralen ästhetik)« von 1989, schuf er allen seinen Spekulationen und Scherzen eine profunde Grundlage.
Ansonsten blieb er, während andere Fluxuskünstler, so Beuys und Paik, ins Grandiose ausholten, beim bescheidensten Medium überhaupt, der Zeichnung. »was man mit einer plastik bewältigen kann, braucht man nicht als gebäude zu errichten; was man in einem bild bringen kann, braucht man nicht als plastik zu machen; was man mit ner zeichnung erledigen kann, braucht man nicht als bild zu bringen; was man auf nem zettel klären kann, braucht keine zeichnung zu werden; und was man im kopf abwickeln kann, braucht nichtmal einen zettel!«
Darüber, was Schmit auf Zetteln klärte und im Kopf abwickelte, wissen wir wenig. Seine Zeichnungen bieten freie Gedanken über elementare Dinge. Ein Lieblingsthema ist die Mimikry. Die Flunder passt sich dem Flussboden an, die Heuschrecke dem Blatt, das Chamäleon dem Dschungel. Diese Anpassung interessierte Schmit, nämlich sowohl, ob ein Chamäleon weiß, was Grün oder Rot, als auch, ob es ein Vertreter der nachahmenden Kunst ist, die jahrhundertlang besser als die Natur sein wollte und stets schlechter war. Aus der Beschäftigung mit dem Thema entstand etwa 1991 der »mimikreis«, ein Zyklus nicht für Wassereimer, sondern für täuschende Tiere. Da ist ein Tintenfisch, der wie ein Chamäleon, das wie eine Flunder, die wie eine Heuschrecke aussieht usw. Dahinter steht die Frage, wie ein Chamäleon aussieht, das wie ein Chamäleon aussieht. Denn wie sieht ein Chamäleon wirklich aus? Es ist nur in der Umwelt vorzustellen, in die es verschwindet.
Solche absurden Zyklen erblickt Schmit auch in der Gesellschaft. Der Drucker, der sich eine Bleistiftzeichnung an die Wand hängt, der Bleistiftfabrikant, der eine Stahlplastik erwirbt, und der Stahlarbeiter, der sein Heim mit einer »Zigeunerin« schmückt, sowie einige andere, bilden zusammen den »kunstfreundekreis« (1988). Komischer ist die Geschichte der Entfremdung selten erzählt worden. Am Ende seines Lebens wird Schmit abstrakter, er experimentiert mit Fibonacci-Reihen und erhebt sich direkt von seinem Stuhl in den Kosmos. Seine »e-constellations« (2004) sind ein Trickfilm mit ineinander übergehenden Sternbildern wie »Dackel auf Rädern« oder »Krokodilschwanz«. Angeregt dazu haben ihn Jean Rouchs Filme über die in Westafrika lebenden Dogon, die eine bewundernswerte Kenntnis des Sternenhimmels besitzen.
Tomas Schmit wollte sich selbst einen Reim auf Welt und Weltall machen. Dabei stieß er nicht von Ungefähr auf Ungereimtes, er zog es regelrecht an. Wer Kunst mag, die schmückt und tröstet, ist bei ihm an der falschen Adresse. Wer Fragen aufregender als Antworten findet, sollte sich diesen Künstler nicht entgehen lassen.
Tomas Schmit: »bald ist wieder schneckentreffen«. Noch bis zum 13. November in der Kunsthalle Lingen, Kaiserstraße 10a, 49809 Lingen (Ems)
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