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«Willkürliche Eingriffe in die Statistik»

Sozialverband kritisiert angeblich manipulierte Hartz-IV-Berechnungen der Bundesregierung

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 3 Min.

Zum neuen Jahr soll der monatliche Hartz-IV-Regelsatz auf 409 Euro klettern. Das sei «keine politische Festlegung», betonte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) jüngst gegenüber den «Norddeutschen Neuesten Nachrichten». Vielmehr hätten neue Berechnungen ergeben, «dass der Regelsatz für allein lebende Erwachsene um fünf Euro auf 409 Euro steigen muss». Erfolgt die Regelsatzerhöhung, die LINKE und Sozialverbände als zu gering kritisieren, also auf Grundlage streng neutraler Berechnungen?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat selbst nachgerechnet und kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Demnach müsste der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsen auf mindestens 520 Euro steigen, wie Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider am Dienstag erklärte. Doch wie kommt es zu diesem Unterscheid von immerhin 111 Euro? Schneider warf dem federführenden Bundesarbeitsministerium vor, «willkürliche Eingriffe in die Statistik vorgenommen» und «das Ergebnis künstlich kleingerechnet» zu haben«. Zudem habe das Ressort von Ministerin Nahles »so gut wie alle Ausgaben, die mit gesellschaftlicher Teilhabe zu tun haben, dem Rotstift geopfert« und fast ausschließlich »ein physisches Existenzminimum berechnet«.

Doch wie rechnet man einen Regelsatz künstlich klein? Grundlage der Berechnungen bildet die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre erhebt und die die Konsumausgaben privater Haushalte erfasst. Schneider unterstellt der Regierung, die Referenzgruppe aus der EVS verkleinert zu haben. Orientierte sich die Regelsatzhöhe bis 2010 noch an den Ausgaben der ärmsten 20 Prozent, sind es heute die untersten 15 Prozent. Das heißt: Die Referenzgruppe ist ärmer geworden. Allein diese Maßnahme würde den Regelsatz um 20 Euro drücken, so Schneider.

Zudem habe die Streichung der Ausgaben für Tabak und Alkohol den Satz um weitere 17 Euro reduziert. »Das geht methodisch nicht«, meint Schneider. Schließlich würden nur 21 Prozent der Hartz-IV-Bezieher rauchen und nur 60 Prozent Alkohol trinken.

Dazu muss man wissen, dass sich der Regelsatz aus lauter einzelnen Posten zusammensetzt, die den EVS-Kategorien entsprechen. Da finden sich Ausgaben für Möbel ebenso wie für Bücher und Sportartikel. Alles ist auf den Cent scheinbar genau beziffert. Für »Schuhzubehör« beispielsweise 23 Cent pro Monat.

»Gartenerzeugnisse und Verbrauchsgüter für die Gartenpflege« wurden komplett gestrichen. Schneider findet das unverständlich. Schließlich hätten auch Arbeitslose ein Recht auf einen Kleingarten.

Ein weiterer Trick des Arbeitsministeriums: Bei den Ausgaben für Imbiss- und Restaurantbesuche habe man den bloßen Warenwert zugrunde gelegt, also das, was der Wirt für die Produkte im Großeinkauf zahlt.

Die Motive des Ministeriums liegen auf der Hand: Nach Schätzungen von Schneider würde die von seinem Verband geforderte Erhöhung des Regelsatzes auf 520 Euro rund acht Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich kosten. Dabei sind die demnächst hinzukommenden Geflüchteten noch gar nicht berücksichtigt.

Gänzlich unmöglich seien Alternativberechnungen für die Kinderregelsätze. Da könne man genauso gut würfeln, spottete Schneider. So hätte man in der EVS ganze 89 Paarhaushalte mit einem Kind zwischen 14 und 18 Jahren. Diese Gruppe sei so klein, dass sich keine validen Daten ableiten ließen. Das erkläre »die kuriosen Ergebnisse«, unterstrich Schneider. So seien die Ausgaben für Kinder unter sechs angeblich gesunken.

Die Folge: Der Regelsatz für die Kleinsten soll im kommenden Jahr nicht erhöht werden.

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