Zwangsehe und Selektion

Das 6. Favourites Film Festival Berlin zeigt Lieblingsfilme internationaler Festivalbesucher

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Zahl der Filme ist leicht geschrumpft und auch der Spielort hat sich geändert, aber die Auswahlkriterien für die Reihe sind geblieben: Einen Publikumspreis bei einem internationalen Filmfest mussten die neun Filme schon gewonnen haben, um beim Favourites Film Festival überhaupt zugelassen zu werden.

Das Kindersozialdrama »Pelo Malo« aus Venezuela trug den Preis beim Festival im großen italienischen Turin davon, das isländische Inzest- und Wirtschaftskrisenmelodram »Vonastræti« (Life in a Fishbowl) im kleinen englischen Keswick. Der iranisch-europäische Dokumentarfilm »Sonita« gewann den Publikumspreis beim US-Megafestival in Sundance - und den Großen Jury-Preis gleich noch dazu. Und den Preis der S.O.S. Kinderdörfer beim Dok.fest in München. Und dann gleich noch einen Publikumspreis: beim 4. Favourites Film Festival in Bremen, einem Ableger der Berliner Reihe.

»Sonita« erzählt von einer jungen Afghanin, die mit ihrer Familie vor Taliban und Krieg nach Iran floh und nun illegal in Teheran lebt. Dort geht sie nicht zur Schule, sondern putzen - aber Träume für die Zukunft hat sie trotzdem. Solange jedenfalls, bis der ältere Bruder in Afghanistan heiraten möchte und kein Geld da ist, die Hochzeit zu finanzieren. Weil aber die Söhne in manchen Gesellschaften immer noch mehr zählen als die Töchter, soll Sonita ran, mit ihrem Körper die Ehe des Bruders zu finanzieren. Verheiraten will man sie (auch nicht zum ersten Mal) und das Brautgeld einstreichen, also beordert Sonitas Mutter sie zurück nach Afghanistan.

Sonita aber möchte frei sein - und rappen (auch in Iran keine sonderlich akzeptabler Traum für eine junge Frau.) Spätestens mit der Frage der Zwangsverheiratung - Sonita ist sechzehn - steht auch die iranische Filmemacherin Rokhsareh Ghaem Maghami vor einem Dilemma. Wie verhält man sich als Dokumentarfilmer, wenn das eigene Sujet sich plötzlich hilfesuchend an einen wendet? Wenn man Teil des Films wird und sich nicht mehr hinter der Kamera verschanzen kann? Die Filmemacherin entscheidet sich für das aktive Eingreifen.

Sie verhilft Sonita zu einem Video-Auftritt, der auf YouTube Furore macht (natürlich rappt Sonita gegen die Kinderehe) und zu einem Schulstipendium führt - ausgerechnet in den USA, beim großen Feind des iranischen Regimes und Traumziel vieler Afghanen. Um ihre Papiere in Ordnung zu bringen, muss Sonita aber zunächst zurück nach Afghanistan, immer in Sorge, nie wieder ausreisen zu dürfen. So viel sei vorab verraten: Wer Sonita Alizadeh heute im Netz sucht, wird mehr finden als die Verweise auf den Film. Und das nicht in einer Liste mit Opfern, sondern als Davongekommene.

Auch der zweite Dokumentarfilm im Programm ist ein Muss für jeden Fan sozialrelevanter Filmkunst: in »L’abri« (The Shelter) richtet Fernand Melgar - Schweizer Dokumentarfilmer mehrerer filmischer Meilensteine zum Thema Festung Europa - seine Kamera auf eine Notunterkunft in Lausanne, vor der sich Abend für Abend die gleichen dramatischen Szenen abspielen. Zu viele Bedürftige, zu wenig Geld und Platz: Das Personal muss selektieren (das böse Wort ist mit Bedacht gewählt), wer rein darf und wen man abweisen muss. Draußen ist es kalt, drinnen im Tunnel einfach kein Raum für weitere Matratzen - es ist ein hoffnungsloser Kampf, Nacht für Nacht.

Ähnlich lebensecht und alltagsnah, dabei nachdenklich und melancholisch und humorvoll ist der Eröffnungsfilm der Reihe, der vielleicht schönste der Spielfilme im Favourites Film Festival 2016: »D’une pierre deux coups« (Our Mother) ist das Altersporträt einer algerischen Mutter in einer namenlosen französischen Vorortsiedlung. Der Tod eines früheren Arbeitgebers aus der alten Heimat lässt alte Lieben und alte Wunden aufbrechen und führt eine Frau, die elf Kinder großgezogen hat, ohne selbst je lesen zu lernen, einen Tag lang weg von ihrer Familie - während die erwachsene Brut bei ihr zu Hause sitzt und sich fragt, was wohl aus Mama geworden ist, die doch nie grußlos verschwindet. Noch dazu auf eine Selbstentdeckungsreise! Was kann da schon groß zu entdecken sein? Eine Perle von einem Debütfilm - und Regisseurin Fejria Deliba wird zur Eröffnung anwesend sein.

City Kino Wedding, Müllerstraße 74, 7.-11.9., Karten unter 0176/30 53 26 87 (ab 5.9., täglich ab 16 Uhr) oder unter www.fffberlin.de (dort auch Filminfo). Freier Eintritt für Bezieher von ALG II, Asylbewerber und »Geduldete«.

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