Saure Kirschen
An Zimmerpflanzen besaß ich bis vor einigen Tagen drei dürre Palmen und eine für mich undefinierbare Kleinblättrige, die ich ebenso als Südländerin einordne. Ich setzte sie hinter unserem Haus zwischen dem Spielplatz und dem Müllgehege aus. 25 Jahre sind genug, sagte ich mir, raus aus Hotel Papa. Als ich mir diese Stubenschimmelbiotope anschaffte, lebte ich noch im Hinterhaus, im 1. Stock, dort war es grau und duster. Mein Wohnungswechsel ging mit dem Aufstieg in das 4. Geschoss einher. Nach vorne und hinten raus darf ich maximales Grün genießen, deshalb nenne ich das kleine Areal vor dem Haus Minna-Flake-Platz und das große dahinter Arnswalder Platz. Es gibt Kastanien und Buchen, aber keine Palmen. Macht nichts. Bald haben wir die Ampelblätterwochen, gefolgt von einigen grauen Monaten. Richtig so, bloß nichts ewig aufpäppeln, um sich etwas vorzumachen. Ich brauche auch nicht ständig Erdbeeren und Spargel. Weshalb also Palmen? Was wir brauchen, ab dem Tag X, und ab jenem mindestens zehn Tage, soll zum Beispiel Trinkwasser sein. Diese Meldung wurde neulich auf vielen Kanälen verbreitet, sodass einige Leute ihre Einkaufsliste überarbeiteten und Wasser, Gemüse und Batterien horteten. Auch ich habe mich entschlossen, in der Wohnung etwas Platz zu schaffen, für Kirschlikör, Rotwein und Mon Cheri. Genügend Trinkwasser gibt es auf der Arbeit, aus dem Hahn des fantastischen Wasserspenders.
Die Kriegsschauplätze dieser Welt sind unter den Kollegen selten Thema, eigentlich nie. Wenn es hochkommt, wird über die Protagonisten der Problemkieze hergezogen. Selbst wenn die globalen Turbulenzen uns einholen, werden wir weiter arbeiten gehen, da bin ich mir sicher. Wir beginnen früh um sechs Uhr die Schicht und gegen halb sieben kommt der Cateringmann. Die Kollegen holen sich Schrippen und Kaffee, ich fülle meine Flasche mit Wasser auf. Nicht aus politischen, sondern gesundheitlichen Gründen. Gegen halb acht und kurz nach neun gehen viele Kollegen eine rauchen, unten in der zugigen Einfahrt. Ich gehe mit in die Kirschlikörecke, falls eine eröffnet wird, habe ich zum Chef gesagt. Zum Feierabend fülle ich meine Flasche noch einmal auf, für Zuhause, denn an den Wein gehe ich noch nicht ran; auch wenn der Vorrat zwischen den Wohnzimmerfenstern umfangreicher ist als das Leergut neben dem Kühlschrank.
Meine ausgesetzten Pflanzen hat kein Nachbar in seine Wohnung gerettet. Ich habe ein schlechtes Gewissen und ahne, dass das Schicksal sich rächen wird. Gestern meldete sich ein bis dato unauffälliger Muskel so unkomisch. Die Karte für das morgige Spiel zwischen dem BFC Dynamo und dem Hamburger SV habe ich verlegt. Und woran, wenn nicht an die Palmen, hänge ich im Dezember meine Weihnachtskugeln?
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