Deutsche auf Distanz zu Erdogan
Verhaftungswelle wird kritisch gesehen
Vier von fünf Deutschen halten das harte Vorgehen von Präsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Umsturzversuch in der Türkei für überzogen. In einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov nannten 64 Prozent die Festnahmen Tausender Militärangehöriger und Richter »sehr unangemessen«. Spekulationen, wonach der Putschversuch eine Inszenierung des Präsidenten war, um die Opposition zu schwächen, halten etwa zwei Drittel der Befragten für wahrscheinlich. Jeder dritte Befragte (33 Prozent) hält die Türkei als Reiseziel für »sehr gefährlich«, lediglich ein Prozent entschied sich für »sehr sicher«.
In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid für das Magazin »Focus« sprachen sich 75 Prozent der Befragten dafür aus, die Beitrittsverhandlungen zu beenden. 19 Prozent wollen sie fortgesetzt sehen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat die Türkei aufgefordert, den Ausnahmezustand auf möglichst kurze Zeit zu begrenzen. Er müsse »auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet« werden, sagte Steinmeier am Mittwochabend in Washington. Er mahnte er, »bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuchs dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben«.
Deutlichere Worte findet Sahra Wagenknecht. Die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag erklärte am Donnerstag, »die Bundesregierung muss jetzt endlich ihren Premiumpartner Erdogan aufgeben«. Die Erklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, »den schäbigen Flüchtlingspakt mit der Türkei weiterführen zu wollen«, wie auch von Steinmeier, der »Erdogan eine möglichst kurze Verhängung des Ausnahmezustands empfiehlt«, seien »eine moralische Bankrotterklärung«. Die EU-Beitrittsverhandlungen müssten gestoppt und die EU-Vorbeitrittshilfen eingefroren werden. »Dialog ja, aber keine weitere Unterstützung«, so Wagenknecht.
Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) sorgt sich dagegen vor allem um ein mögliches Wiederanschwellen der Flüchtlingszahlen. Es könne sein, »dass das, was derzeit dort läuft, am Ende dazu führt, dass auch aus der Türkei heraus Menschen Asyl beantragen werden«.
Die Bundesregierung will weiter am EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhalten. Die Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung werde »in allen ihren Facetten« weiterhin unterstützt, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière dem Berliner »Tagesspiegel« am Donnerstag. Auf die Frage, ob das Abkommen aufgrund der aktuellen Ereignisse überdacht werden müsse, antwortete de Maizière mit »Nein«. dpa/nd
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