Peitsche und Zuckerbrot
NATO signalisiert Eckpunkt der Europapolitik: Nach Abschreckung vielleicht auch Dialog
Will man die vom Warschauer NATO-Gipfel zu erwartenden Fixpunkte benennen, so wären das vor allem sechs. Erstens: Die NATO hat eine Zeitenwende vollzogen. Sie geht weg von Ansätzen der Kooperation hin zu grundsätzlicher Konfrontation. Dabei ist die Außen- und Sicherheitspolitik Moskaus ein willkommener Anlass. Zweitens: Die USA bestimmen wieder deutlicher den Kurs und die grundlegenden Aufgaben des Bündnisses. Drittens: Die europäischen Mitgliedsstaaten lassen sich fast widerspruchslos in die beim letzten Gipfel in Wales 2014 beschlossene Kursänderung einbinden und erhöhen merklich ihre Rüstungsaufwendungen. Dabei geht es - jenseits der medialen Optik - um qualitative Schwerpunkte unter anderem im Cyber- und im Weltraum. Viertens: Die 28 Mitgliedsstaaten sind politisch ebenso rasch handlungs- wie ihre Truppen einsatzfähig. Bisher nicht gebundene Staaten werden in die Operationen eingebunden. Fünftens: Eine drohende Spaltung in eine Ost-NATO und eine Süd-NATO wird vermieden, denn man macht ebenso wie gegen Russland gegen Gefahren mobil, die von jenseits des Mittelmeeres drohen. Sechstens: Die NATO bietet Verhandlungen an, jedoch nur aus einer Position der Stärke.
Die US-dominierte NATO-Einheitsfront ist so stark, dass es schwer geworden ist, eine Stimme der Vernunft zu erheben und auf die Lehren des vergangenen Kalten Krieges zu verweisen, um eine neue Runde akuter Weltgefährdung zu verhindern. Zwar hatte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) deutlich darauf hingewiesen, dass er das Vorgehen der NATO zur Bündnisverteidigung für richtig halte. Doch als er dann davor warnte, »durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen« und dazu noch »symbolische Panzerparaden« der US-Army an der Ostgrenze des Bündnisses kritisierte, schlugen die Wogen über ihm zusammen.
Dabei stimmt es doch, dass die Allianz, vor allem aber Deutschland, gut beraten wären, »keine Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu liefern«. Die gesamte schwarz-rote Regierungsmannschaft duckte sich feige weg und Steinmeier musste tags darauf auf peinliche Weise zurückrudern.
Noch will das Bündnis insgesamt nicht offen gegen Verabredungen der NATO-Russland-Grundakte von 1997 mit Moskau verstoßen. Damals versprach die NATO - juristisch nicht bindend - keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren. Das versucht man nun erstens damit zu umgehen, dass man »nur« vier multinational aufgefüllte Kampfbataillone gen Osten vorrücken lässt und zweitens dadurch, dass man die Einheiten in eine gewisse Rotation einpasst, die den Anschein von nicht-dauerhaft erweckt. In der NATO-Russland-Grundakte ist auch zu lesen, dass es keinen Grund gibt, »die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern«. Auch in diesem Punkt ist die NATO bislang vor allem polnischen Scharfmachern, die die Grundakte aufkündigen wollen, nicht gefolgt. Doch seit entsprechenden Beschlüssen von 2010 - also lange vor der russischen Krim-Annexion - modernisieren die USA ihre nuklearen Angriffsmittel. Ohne dass über die politischen Absichten Klarheit geschaffen wird. Offenbar will man mit den Atomwaffen - wie im vergangenen Kalten Krieg - die zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Streitkräfte kompensieren. Wesentlich ist, ob das Konstrukt der Nuklearen Planungsgruppe in der NATO verändert wird. Schon seit einigen Jahren bezieht das Bündnis beispielsweise polnische und tschechische Jagdbomber-Geschwader in die Atomangriffsübungen ein.
Politischen Widerstand gegen den NATO-Kurs kann man im Bundestag allenfalls noch von der Linksfraktion erwarten. Die hat jüngst einen sechsseitigen Antrag vorgelegt und fordert darin, die NATO durch ein kollektives System für Frieden und Sicherheit in Europa zu ersetzen. Unter Einschluss Russlands, denn alles andere wäre eine verkürzte Vorstellung des Kontinents und sinnentstellend.
Das Papier der Oppositionsfraktion ist nicht gerade locker lesbar, denn es ist der Versuch einer Gesamtanalyse. Falls das Thema, was notwendig wäre, im Wahlkampf um Bundestagsmandate eine hervorgehobene Rolle spielen soll, wären ein paar griffige Argumente zur verheerenden Politik beider involvierten Seiten hilfreich. Weniger Deutliches kann man vermutlich von den Grünen erwarten, die mit einem Auge auf eine kommende schwarz-grüne Regierung schielen. Das macht ein Wiederaufleben der einst machtvollen Friedensbewegung nicht einfacher.
Wenn man in all dem begonnenen Säbelrasseln etwas Positives bemerken sollte, dann das: Die NATO-Aufrüstung an den russischen Grenzen verläuft relativ transparent. Umso wichtiger ist es, bestehende und einst auch wirksame multinationale Mechanismen wie die OSZE zu aktivieren und zu motivieren. Das wäre eine herausragende Chance, die Deutschland nicht nur durch den aktuellen Vorsitz in der Organisation in Händen hat. Völlig ungewiss dagegen scheint, wie die NATO im Süden agieren will. Dort hat man es im Falle des Islamischen Staates zwar auch mit einer sogenannten hybriden Kriegsführung zu tun, doch es fehlt auf der gegnerischen Seite ein dominierender staatlicher Akteur. Die NATO versucht - nachdem sie sie weggebombt hat -, wieder staatliche Autoritäten zu schaffen. Deren Aufgabe wird vor allem die Abwendung der Migrationsströme sein. Das ist eine irre Hoffnung.
So lange die NATO fast ausschließlich auf militärische Stärke setzt, geht jeder Blick für notwendige Lösungen zur gemeinsamen Abwehr von Menschheitskrisen wie Klimaveränderung, Hunger und Bildungsnotstand verloren.
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