Krämer und Helden
Für Krämerseelen sind Veranstaltungen wie die Fußball-EM ein Hochamt. So wie eingefleischte Fußballfans sich ein Stück des Fußballrasens aus dem Stadion klauen, in dem ihre Lieblingsmannschaft spielt, und es sich auf die Vitrine im Wohnzimmer stellen, sammeln diese Krämerseelen allerlei Devotionalien der von ihnen fetischisierten Objekte. Im Unterschied zum Fußballenthusiasten dienen diese aber ausschließlich dem Zweck der Austreibung eines Ungeistes. Noch jede Winzigkeit wird aufgenommen in den heiligen Schrein der Empörung und dient als Beleg für die Verwerflichkeit dessen, was unter ständige Beobachtung gestellt ist. Die einen mokieren sich über die Bilder von Kindern mit schwarzer Hautfarbe auf Schokoladenverpackungen oder über deutsche Spieler, die die Nationalhymne nicht mitsingen, andere über den Nazi-Gruß auf der Fan-Meile in Berlin oder eine Reichskriegsflagge in Hintertupfingen.
Natürlich haben letztere recht: Der Grad, auf dem die Zivilisation wandelt, ist schmal, und ständig droht der Rutsch in die Barbarei. Ihrem geschärften Blick entgeht deshalb nichts und er nimmt für sich in Anspruch, die Einzelheiten zu erkennen und daraus auf das große Ganze zu schließen.
Leider geht dabei der Blick für die kleinen Nebensächlichkeiten verloren, die doch für den Fortbestand der Zivilisation so wesentlich sind. Jérôme Boatengs Rettungsaktion auf der Torlinie beim EM-Spiel zwischen Deutschland und der Ukraine vergangenen Sonntag hat den Innenverteidiger der deutschen Fußballnationalmannschaft in den Augen vieler Menschen hierzulande zum »deutschen Helden« gemacht. Mancher Krämerseele aus den Reihen der AfD wird das nicht gefallen haben, aber viele kleine Jungs und Mädels werden die artistische Aktion, erst selbst fast ein Eigentor zu erzielen und den Ball im Rückwärtsfallen dann doch noch wegzukicken, vermutlich in den nächsten Wochen auf den Bolzplätzen nachzustellen versuchen.
Jérôme Boateng ist also ein Held, das Bild des Fotografen (eine Zufallsaufnahme, wie er sagt) schon jetzt eine wertvolle Fan-Devotionale. Noch vor zwei Generationen reichte es für den Status des deutschen Helden aus, den Kanonendonner in den Schützengräben überlebt und besonders viele Russen, Franzosen oder Polen gemeuchelt zu haben, im Deutschland des Jahres 2016 muss man mehr können, nämlich ein Weltklassefußballer sein. jam Foto: imago/Team 2
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.