»Eine Fehlkonstruktion aus der Nachkriegszeit«
Sieben Tage, sieben Nächte: Wolfgang Hübner über ungewöhnliche Lobhudelei
In dieser Woche wurde der Vorsitzende der CSU gelobt. Hier, in dieser Zeitung. Vielleicht haben Sie es gelesen. Womöglich war es das erste Mal überhaupt; gefühlt auf jeden Fall erstmals, seit Franz Josef Strauß die DDR mit seinem Milliardenkredit eingetütet hat. »Bravo, Horst Seehofer!« stand jetzt über einem Kommentar, und eine solche Ovation unsererseits ist nicht einmal Strauß zuteil geworden. Wir werden streng darauf achten, dass sich so etwas frühestens im vierten Quartal wiederholt. Allerallerfrühestens.
Hilfreich wäre es, würde man im Redaktionsstatut, das seit einer Weile die Grundlage unserer Arbeit bildet, dazu etwas Verbindliches finden. Etwa so: »Parteien wie die CSU bzw. führende Vertreter solcher Parteien dürfen höchstens einmal pro Jahr positiv erwähnt werden.« Im Redaktionsstatut, um dessen Inhalt intensiv gerungen wurde, kann man beispielsweise nachlesen, wie man den Chef ordnungsgemäß absägt. Zweifellos eine wichtige Sache, aber die CSU-Frage fehlt eben.
Der Grund für die kleine Seehofer-Aufwallung war die Tatsache, dass sich der Bayern-Herrscher beinahe bis auf Armlänge an die Erkenntnis herangetastet hatte, dass es sich bei der Eigenständigkeit seiner Partei um »eine Fehlkonstruktion aus der Nachkriegszeit« handelt. Er wehrt sich zwar noch gegen diese Sichtweise, aber er hat sie immerhin schon mal laut ausgesprochen. Nun ist alles Gewöhnungssache. Wenn er den Satz täglich zehnmal memoriert, wird er ihm bald sehr vertraut sein.
Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass Geschichte offen ist, also jedenfalls soweit sie die Zukunft betrifft. Vielleicht erleben wir demnächst eine jähe Wendung, eine Art Kartoffel-Revolution, in deren Verlauf sich die unterdrückten Stämme der Rheinländer, Brandenburger, Württemberger, Mecklenburger usw. gegen das Berliner Diktat erheben und mehr Autonomie erkämpfen. Jedem Völkchen seinen Freistaat! Und seine eigenen Wahlvereine! 16 mal sowas wie CDU, 16 mal sowas wie SPD, 16 mal sowas wie LINKE. Und so weiter. Wobei es sein kann, dass sich bei der Gelegenheit gleich noch etwa die Franken, Vorpommern und Ostwestfalen aus dem Joch der Regionalknechtschaft befreien.
Wie das die innenpolitische Berichterstattung beleben würde! Dutzende selbstherrliche Provinzfürsten, die auf Berlin pfeifen und, wenn sie schlechte Laune haben (immer!), den Berliner Botschafter in Düsseldorf, Greifswald oder - natürlich - München einbestellen, um ihn auf ortsübliche Weise ein wenig zu piesacken. So, wie es die Türken mit dem deutschen Abgesandten in Ankara auch gerne tun. Wobei das keinesfalls ein herabsetzender Vergleich sein soll, denn Erdogan hat womöglich seine guten Seiten, die wir hier bloß nicht zur Kenntnis nehmen. Aber wie oft wir den loben dürften, steht leider auch nicht im Redaktionsstatut. wh
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.