Wer denkt an Ghana?

Norbert Blüms »Aufschrei!« gegen die Erbarmungslosigkeit

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
Dieses Buch mag man als einen Rundumschlag bezeichnen. Themensprudel. Blüm selber nennt sein Pamphlet »wild«. Er will im Hinblick auf die heutige Welt Marx vertrauen: »Es kömmt darauf an, sie zu verändern.«

Die bekömmlichste politische Bewegung ist jener lebbare Ausgleich zwischen Wohlstand und Wohlfahrt. Der gelernte Werkzeugmacher Norbert Blüm, unter Kanzler Kohl langjähriger CDU-Arbeitsminister, betätigt sich als Stau-Melder von unterwegs: Der Bestand unserer Gesellschaft ist gefährdet durch Stillstand und Irrfahrt. Stillstand der Moral, Irrfahrt der Geldströme. »Aufschrei - wider die erbarmungslose Geldgesellschaft« heißt sein Buch. Ein Pamphlet für Arbeit, für Europa, gegen Krieg, Korruption und religiösen Fanatismus.

Blüm ist Christ, und er hat eine proletarische Vergangenheit, etwa »als trampender Gastarbeiter« in der Türkei - woraus sich ihm der Maßstab aufbaute, was Gerechtigkeit sei: niemanden als niedrig zu betrachten. Statt Geringschätzung: das Geringe schätzen. Das Geringe und jeden vermeintlich Geringen. Wo man sich fremdes Leid ins eigene Gemüt holt, wächst ein wenig das Bewusstsein von der Unteilbarkeit der Welt. Für unser Leben im Westen heißt das: Jeder Nutznießer ist immer auch ein Verantwortlicher. Verantwortung fühlen bedeutet: freiwillige Selbstbelastung - und zwar mit den Sorgen derer, denen durch Ausbeutung und Ausgrenzung die Freude an sich selber abgesprochen wird.

Blüm ruft nach Besinnung: Gesund ist, wer in heutiger Welt weiterhin der Entzündbarkeit seines Gewissensnervs ausgeliefert bleibt. In einer Welt, in der die bittere, böse Frage gilt: Warum soll einer gut sein, auf seine eigenen Kosten? Gutsein ohne Preis lohnt sich nicht. Inzwischen haben wir nichts mehr, was uns zurückhält: Mitteleuropäische Bankiers verwalten blutbeflecktes Geld ausländischer Diktatoren, unsere Wirtschaft profitiert vom Blut- und Waffengeld - und wir sind natürlich trotzdem tapfer Demokraten. Das heißt leider nur: Wir nehmen aktiv unsere Rolle als Lorbeerbäume neben den Rednerpulten wahr. Also geht es uns gut - ohne dass wir gut sein müssen. Diese Wahrheit, die uns so schön satt macht, ist elend. Wir schlucken das. Und schreien dennoch auf, wie Blüm. Wir sind Artisten: Bauchredner der modernen Art. Schreien und Schlucken gleichzeitig. Das geht. Wie lange gut? »Der Euro ist jedenfalls kein Wegweiser zur Seele Europas.«

So verzweifelt ist die Lage. So verzweifelt ist Blüm - verzweifelt über einen gesellschaftlichen Umgang, der von den Verwaltern des Leistungsprinzips bestimmt wird. Die den Menschen dazu treiben, sein ethisches Verhalten firmenabhängig und aufstiegsgebunden zu betreiben. Blüm nennt Namen und zielt aufs Ganze, für das sie stehen: »Ich kann mir Winterkorn, Ackermann und Blatter nicht als glückliche Menschen vorstellen.« Jeder dehnt das Gesetz, bis es seufzt. Vielleicht bewirkt dies, dass Mächtige und Fleißige und Ehrgeizige, kurz: die hauptsächlichen Macher, inzwischen alle ein wenig so aussehen, als drohte ihnen unmittelbar die Entlarvung. Und wir, der folgsame Rest, der sieht aus wie jemand, an dessen Entlarvung bislang nur noch niemand interessiert war.

Die Riesterrente nennt er »Solidarität für Geisterfahrer«. Für die politische Auseinandersetzung wünscht er sich »wieder Wahlkämpfe, in denen es um Richtungsentscheidungen geht: etwa zwischen Europa und dem Nationalstaat«. Und die so sehr grassierende »reine Innerlichkeit« beim Nachdenken über die Welt - es ist für ihn »eine Art der getarnten Feigheit«. Lieber spricht er von »Klassenkämpfen« und beklagt deren nationale Enge: »Ich habe noch keinen Streik von ver.di etwa für Kaffeebauer in Ghana erlebt.« Ungarn, Polen? »Ihr Lebenstraum war Freizügigkeit, jetzt sind sie die nationalen Türschließer vor dem Andrang der Bedrängten.«

Die Deutschen, so Blüm, hatten nie eine glückvolle Beziehung zum Umsturz. Das änderte sich mit der friedlichen Revolution im Osten, 1989 - deren Haupttriebkraft, wie die Idealisten einsehen mussten, nicht Freiheit schlechthin und schon gar nicht Freiheit unter geänderten sozialistischen Vorzeichen war, sondern, letztlich und bestimmend: »westliche Freiheit«. Für Blüm so etwas wie ein Verpflichtungseid zu europäischer Vaterlandsliebe - er offenbart deutsches Selbstbewusstsein, aber: gespeist ganz aus integrativer Lust. Er redet Klartext über kalte Zustände, aber er leidet nicht an jenem Deutschlandhass, der wie eine linke Kehrseite der schlagenden Verbindungen wirkt: Korpsgeist zu Korpsgeist - nun ja, auch Sekten haben Existenzrecht.

Das Buch mag man als einen Rundumschlag bezeichnen. Themensprudel. Blüm selber nennt sein Pamphlet »wild«. Er will im Hinblick auf die Welt Marx vertrauen: »Es kömmt darauf an, sie zu verändern.« Sein Aufschrei ist kein Programm, kein Rezept. Aber man spürt ein betroffenes Herz. Und er hofft, dass Politiker aller Farben über ihren Schatten springen, aufeinander zugehen. Also: voneinander lernen, im Verfeindeten sich selber sehen. Freundlich bleiben bei Schuldzuweisungen, denn es könnten die Listen der eigenen Schuld verlesen werden. Das rebellische Gefühl, dass diese Gesellschaft verändert werden muss, ist längst kein linkes Privileg mehr. Den oppositionellen Auftrag sollten sich in der Demokratie viele Geisteswelten teilen.

Gewidmet ist das Buch Angela Merkel. Hommage und List. Ehrbezeugung und Auftragserteilung. Als solle sie diesen Aufschrei hören - und selber größeren Mut zeigen, angesichts dieser Welt Fassung zu verlieren. Um weiter an zeitgemäßer Autorität zu gewinnen.

Norbert Blüm: Aufschrei! Westend Verlag. 192 S., geb., 18 €.

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