Hass im Netz
Der Berliner Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu fordert mehr Demokratiebildung und erhält dafür Morddrohungen. Auch gegen andere Politiker nimmt die Hasskriminalität zu
Insbesondere junge Menschen müssen schon in der Schule die Grundwerte der Demokratie erlernen und erleben«, schrieb Özcan Mutlu (Grüne) in einem Gastkommentar auf der Internetseite des »Tagesspiegel« in der vergangenen Woche. Er forderte die Stärkung der »Schlüsselkompetenz der interkulturellen Bildung« sowie des Fachs Politische Weltkunde in der Schule und plädierte nach Kant, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«.
Ein recht harmloser Text, so scheint es. Das dachte wohl auch Özcan Mutlu, als er ihn verfasste. Doch nachdem er ihn auf seiner Facebook-Seite verlinkte, wurde er als Hetzer beschimpft und aufgefordert, Deutschland den Rücken zu kehren. Provoziert fühlten sich manche Leser wohl vor allem durch die Überschrift: »Politikunterricht gegen AfD und Pegida« - die allerdings habe die »Tagesspiegel«-Redaktion gewählt, so Mutlu.
Als er schließlich eine Morddrohung erhielt, erstattete er diese Woche Anzeige bei der Bundestagspolizei. »Du Ratte, du gehörst umgelegt«, hatte ein User gepostet. Drohungen und Hassmails sind für den 48-jährigen Mutlu nicht neu. Fünf bis zehn solcher Nachrichten erhält er nach eigenen Angaben täglich. Sachlich darauf zu antworten sei sinnlos, meint er, das mache die Verfasser »nur noch wilder«. Die meisten der Hasskommentare machen ihm persönlich nichts aus, aber er zieht eine Grenze: »Beziehen die Verfasser meine Familie ein oder drohen mit Mord, dann hört der Spaß auf«.
Özcan Mutlu wurde in der Türkei geboren, mit fünf Jahren kam er nach Berlin und studierte dort später Nachrichtentechnik. Seit 1992 ist er in der Politik. Zunächst saß er in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Kreuzberg, dann im Abgeordnetenhaus von Berlin, und seit 2013 ist er Bundestagsabgeordneter. Zu seinem Wahlkampf um das Direktmandat zur Bundestagswahl 2013 schrieb die »Berliner Morgenpost«, er beherrsche »jene bizarre Mischung aus Faxen und Fakten, die das Publikum nicht verschreckt. Mutlu kapiert die merkwürdig heterogenen Befindlichkeiten zwischen Ost-Platte und 250 Quadratmeter Edelaltbau«.
Er setzt sich für Integration und gegen Rassismus ein, pflegt Stolpersteine, die an die Opfer der Nationalsozialisten erinnern und kritisiert die aktuellen Verhältnisse im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) und in Flüchtlingsunterkünften. Außerdem engagiert er sich für mehr Schüleraustausch, das Ehrenamt und die Sammlung von Althandys. Immer wieder mahnt er: Deutschland investiere zu wenig Geld in Bildung, und vor allem werde die Zukunftsaufgabe der interkultureller Bildung vernachlässigt. Diesbezüglich gebe es »kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit«, so Mutlu.
Wüste Beschimpfungen, Drohungen und Hassmails nehmen auch bei anderen Politikern - vornehmlich linker Parteien - zu. Katrin Göring-Eckardt hat in einer Videolesung die schlimmsten an sie gerichteten Kommentare veröffentlich. Hakan Taş, flüchtlingspolitischer Sprecher der Berliner Linksfraktion, sieht sich immer wieder Bedrohungen ausgesetzt. Auch Flüchtlingsengagierte haben mit mehr Anfeindungen und Drohungen zu kämpfen. »Die rassistische Hetze hat in den sozialen Medien und bei den Kundgebungen ein beängstigendes Aggressionspotenzial angenommen«, sagt Ingmar Pech vom Verein Opferperspektive.
Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter konstatiert bei der Vorstellung der aktuellen Kriminalitätsstatistik für das Bundesland Mitte März: »Es ist zweifelsohne so, dass das politische Konfliktpotenzial in unserer Gesellschaft derzeit zunimmt, und diese Konflikte vermehrt auch in Form von Straftaten oder gar Gewalttaten ausgetragen werden. Der entscheidende Treiber dabei ist aktuell die Asylkrise.« Özcan Mutlu sieht einen gesellschaftlichen Wandel: »Es gilt nicht mehr als verpönt, Ausländerhass zu verbreiten. Ich vermute auch, dass mit den sozialen Netzwerken die Hemmschwelle deutlich gesunken ist.«
Özcan Mutlu hat zwar seinen Umgang mit Hassmails gefunden, aber in schlimmen Fällen erstattet er Anzeige gegen die Urheber. Oft allerdings seien die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sehr langwierig, beklagt er. Seine letzte Anzeige sei fast ein Jahr her und seither gebe es nichts Neues. Dieser Darstellung widerspricht allerdings auf Nachfrage des »nd« die Senatsverwaltung für Justiz in Berlin. Das Verfahren sei »stets beschleunigt bearbeitet worden«, die schleppenden Ermittlungen nicht Schuld der Staatsanwaltschaft. Mehrfach habe man bei Yahoo in den USA darum gebeten, die Identität der fraglichen E-Mailadresse mitzuteilen. Das sei aber bisher nicht geschehen. Wer Özcan kennt weiß: Er wird sich von Beleidigungen nicht unterkriegen lassen. Mittlerweile lösche er auch nicht mehr alle Hasskommentare. Mutlu: »Damit jede und jeder sieht, was für ein Hass sich in unserer Gesellschaft wieder breit macht«.
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